Kurz vor Weihnachten 2022 kam die Mitteilung, dass die Amerikanische Gesundheitsbehörde FDA ein revolutionäres Medikament zugelassen hat, das ein neues Kapitel zur Therapie des Blasenkrebs einleiten wird. Bei der Substanz Adstiladrin handelt es sich um eine Gentherapie, bei der sozusagen mit einem „Kampfstoff“ beladene Viren in die Blase gegeben werden, die dann Tumorzellen befallen, den Kampfstoff in die Tumorzelle abgeben und sie dadurch zerstören. Das besondere ist, dass diese Viren sich in menschlichen Zellen nicht vermehren können und dadurch Folgeschäden vermieden werden.
Blasenkrebs: Von Schwerverbrechern und Taschendieben
Der Blasenkrebs gehört zu den häufigsten Erkrankungen in den westlichen Industrieländern und verursacht nicht nur enorme Leiden, sondern auch riesige Gesundheitskosten. Dabei ist wichtig zu wissen, dass es zwei unterschiedliche Kategorien von Blasenkrebs gibt – den sehr häufigen oberflächlichen Blasenkrebs und den selteneren in tiefe Gewebeschichten einwachsenden Blasenkrebs.
Der oberflächliche Blasenkrebs (linkes Bild) wächst in bis zu 50 % aller Fälle nach, aber nur selten wechselt er die oberflächliche Wuchsform, so dass das Risiko einer Tumorstreuung (Metastasierung) sehr gering ist. Anders der in tiefere Gewebeschichten einwachsende „Schwerverbrecher“ (rechtes Bild), der ein hohes Risiko hat, Tumorabsiedlungen in andere Organ zu verursachen.
Eine schwerwiegende Form des Blasenkrebs ist das Carcinoma in situ (CIS), das zwar oberflächlich ist, aber ein mehr als 30 %-iges Risiko hat, irgendwann in einen einwachsenden und möglicherweise streuenden Blasenkrebs überzugehen. Obwohl flach wachsend, gehört es somit zu den „Schwerverbrechern“ des Blasenkrebs.
Operative Therapie des Blasenkrebs
Ist der Blasenkrebs durch eine Blasenspiegelung erkannt, muss das Gewebe entfernt werden, um es dann durch den Pathologen im Mikroskop beurteilen zu lassen. Diese Entfernung des Blasentumors erfolgt in Narkose und durch die Harnröhre ohne äußeren Schnitt. Das erfolgt mit Miniaturgeräten ohne Beschädigung der Harnröhre. Deswegen wird die Operation als TUR-Blase bezeichnet und meint den Weg Trans (durch) die Urethra (Harnröhre) und die Abtragung (Resektion).
Therapie des Blasenkrebs
Das weitere Vorgehen beim Blasenkrebs hängt davon ab, wie groß und wie tief der Tumor gewachsen ist. Den oberflächlichen „Taschendieb“, der sehr häufig ist, beschreibt man als Ta low Grade, wobei das Kürzel „T“ für Tiefe desWachstums und „low grade“ für die Wildheit oder Differenzierung der Tumorzellen steht. Bei einem low Grade oder hoch differenzierten Tumor sehen alle Zellen gleichartig aus, während sie bei high Grade alle sehr unterschiedlich aussehen – als ob sie nicht mehr miteinander kommunizieren und sich diese „Wildheit“ auch in einem unkontrollierten Wachstum auch in die Tiefe ausdrückt.
- Ta low Grade Tumor der Blase (oberflächlich, wenig aggressiv)
- Ta high Grade Tumor der Blase (oberflächlich, aggressiv)
- Carcinoma in situ (oberflächlich, aggressiv, flächig wachsend)
- T1 high Grade Tumor der Blase (oberflächlich aggressiv einwachsend)
- T2 high grade Tumor der Blase (aggressiv in den Blasenmuskel einwachsend)
- T3 high grade Tumor der Blase (aggressiv über den Blasenmuskel hinaus in das umgebende Fettgewebe einwachsend)
Der tief(er) einwachsende Blasenkrebs
Bei einem in die Tiefe einwachsenen „high Grade Blasenkrebs“ muß damit gerechnet werden, dass der Krebs weiter streut. Dieser Tumor ist sehr aggressiv und führt dann meistens innerhalb von 2 Jahren zum Tod. Man muss dann schauen, ob der Tumor noch organbegrenzt ist oder bereits gestreut hat. Ist der Blasenkrebs noch organbegrenzt und der Betroffene in einem guten Gesundheitszustand, kann man die Blase entfernen und durch eine Ersatzblase ein neues Speicherorgan operativ anlegen.
Da es inzwischen auch immer effektiver wirkende Systemtherapien beim Blasenkrebs gibt, wird auch empfohlen, vor solch einer operativen Therapie eine Systemtherapie vorzuschalten (sogenannte neoadjuvante oder induktive Chemotherapie). Dadurch wird bei einem bestimmten Anteil von Betroffenen eine bessere Überlebenschance erreicht, da es während der Operation zu einem geringeren Anteil einer Tumorzellstreuung kommt.
Der oberflächliche Blasenkrebs
Bei dieser Erkrankung steht nicht die Entfernung der Blase im Vordergrund, denn das Risiko, daran zu versterben, ist sehr gering. Aber die Betroffenen müssen ein Leben lang in Kontrolle bleiben, da diese Tumore in bis zu 50 % wieder nachwachsen. Neben der erneuten Entfernung mit einer inneren Abtragung (TUR Blase, siehe Bild oben) kann man in die Blase Mittel geben, die das Risiko eines erneuten Auftretens verhindern. Genau hier hat mit der neu zugelassenen Gentherapie eine revolutionäre Erweiterung der Therapiemöglichkeiten stattgefunden.
Bereits 1976 begann die Ära der Immuntherapie der Blase
Die Geschichte dieser Immuntherapie beim oberflächlichen Blasenkrebs ist nahezu unglaublich und eine Folge von Zufallsentdeckungen. Noch heute, fast ein halbes Jahrhundert später, ist die Gabe abgetöteter Tuberkelbakterien (BCG) in die Blase ein elementarer Baustein der Therapie des oberflächlichen Blasenkrebs.
Noch lange vor der neuen Ära der Immuntherapie, für die der Amerikaner Allison und der Japaner Honjo im Jahre 2018 den Nobelpreis für Medizin erhielten, gelang es, durch immer wiederkehrende Gabe der „abgetöteten“ Tuberkelbakterien in die Blase, nahezu 2/3 der Betroffenen zu heilen. Man kann die Immuntherapie mit BCG zwar auch bei immer wiederkehrenden oberflächlichen, zunächst harmloser Ta low grade Grade Tumore anwenden, wenn sie sehr schnell und in großer Anzahl wiederkehren.
- Ta low Grade Tumor der Blase (oberflächlich, wenig aggressiv)
- Ta high Grade Tumor der Blase (oberflächlich, aggressiv)
- Carcinoma in situ (oberflächlich, aggressiv, flächig wachsend)
- T1-4 high Grade Tumor der Blase (in tiefere Schichten aggressiv einwachsender Blasenkrebs)
Viel bedeutsamer ist diese Immuntherapie aber für Betroffene mit einem sogenannten Carcinoma in situ (siehe Bild oben mit Fluoreszenz-Diagnostik). Denn dieser „unkrautartige“ und zunächst oberflächlichen Krebs hat ein mindestens 30%-iges Risiko, im Laufe der Zeit dann in tiefere Gewebeschichten einbrechend und dann streuend (metastasierend) zu verlaufen.
Wenn BCG nicht mehr hilft
In der offiziellen Leitlinie zur Diagnose und Therapie des Blasenkarzinoms aus dem Jahre 2016 wird festgestellt, dass ein Carcinoma in situ, dass nicht auf die Therapie mit BCG anspricht, mit einer radikalen Blasenentfernung behandelt werden sollte. Um die Blase zu retten und eine radikale Operation zu verhindern, wird auch das Chemotherapeutikum Gemcitabine in die Blase gegeben, wobei die Ansprechbare ungefähr 30 % der Versager nach der BCG-Therapie beträgt.
Nachdem jahrelang ein Stillstand bei der Therapie des Blasenkrebs bestand, erschien jetzt eine sehr aufwendige und große Studie in den USA mit einem sensationellen Ergebnis. Mehr als 150 Patienten mit einer erfolglosen BCG-Therapie wurden gentherapeutisch behandelt. Bei mehr als der Hälfte der Betroffenen verschwand das Karzinom komplett und dieser Heilungserfolg war wiederrum bei der Hälfte der Behandelten auch noch nach einem Jahr nachweisbar. Jetzt wurde kurz das Medikament am 16. Dezember 2022 von der amerikanischen Gesundheitsbehörde zugelassen.
Warum ist auf einmal der oberflächliche Blasenkrebs wieder im Fokus des Erfolgs?
Im Unterschied zu einer Therapie bei anderen bösartig erkrankten Organen kann man sich zunutze machen, dass man das Medikament (die Lösung mit Viren) NICHT in das Blut geben muß, sondern mit einem Katheter direkt in die tumorbefallene Blase. Da können dann die Viren direkt gegen die Tumorzellen „arbeiten“.
Wichtige Entdeckungen auf dem Weg zur Gentherapie der Blase
- 1957 entdeckten der Brite Alick Isaacs und der Schweizer Jean Lindenmann das Interferon. Es handelt sich um körpereigene Eiweisse, die immunstimulierend wirken, aber auch direkt Viren und Tumorzellen zerstören. Sie werden vor allem in weissen Abwehrzellen (Leukozyten) und Bindegewebszellen (Fibroblasten) gebildet.
- 1979 gelingt es Charles Weissmann in Zürich, die Gene zur Bildung von menschlichem Interferon in Bakterien zu übertragen (rekombinante DNA). Damit konnte reines Interferon in beliebigen Mengen hergestellt werden.
- Im Jahre 2002 beweisen Mainzer Urologen und Pathologen erstmals, dass eine Gabe von Viren in die Blase dort wirkt. Die Arbeitsgruppe hatte es Patienten vor der geplanten operativen Blasenentfernung in die Blase gegeben und man konnte den Viruseffekt dann in den Zellen der entnommenen Blase nachweisen. Damit gelang erstmals der „proof of concept“ einer zukünftigen Gentherapie der Blase mit Hilfe von Viren als Transportvehikeln.
- Im gleichen Jahr entdeckt eine Arbeitsgruppe in Texas, dass man durch die Gabe eines bestimmten Stoffes in die Blase (Syn3 genannt) die oberflächliche innere Schutzschicht der Blase „aufweichen“ kann, so dass Viren um ein Vielfaches besser in darunter gelegene Zellschichten eindringen können.
- 2004 gelingt es der gleichen Arbeitsgruppe in Texas, tierexperimentell bei Mäusen mittels Virentransfer in den Tumorzellen die Produktion von Interferon zu stimulieren, was zu einem deutlichen Rückgang des Tumorbefalls der Blase führt.
- Im Jahre 2006 erscheint eine Arbeit, in der mitgeteilt wird, dass man beim oberflächlichen aggressiven Blasenkrebs sowohl BCG als auch Interferone direkt in die Blase gegeben hat. Bei 45 % der Betroffenen kam es zu einem Ansprechen.
- Mehrere Arbeitsgruppen identifizieren den Wirkmechanismus des Interferons im Blasentumorgewebe. Es kommt zu einer Abnahme der Gefäßbildung, so daß der Tumor „austrocknet. Das führt zum Zelluntergang, der sogenannten Apoptose und einem geminderten Zellwachstum.
- 2013 werden die ersten Ergebnisse der Phase 1 Testung mit Erkrankten veröffentlicht. Es gelang durch die Gentherapie, bei 6 von 14 Patienten (43 %) nach Versagen mit BCG eine komplette und anhaltende Heilung zu erzielen.
- Im Januar 2021 werden die Ergebnisse einer großen Phase 3 Studie bei Patienten mit einem Carcinoma in situ veröffentlicht, die nicht auf die Therapie mit BCG angesprochen haben (sogenannte BCG-Versager). Durch eine einmalige Gabe der „Therapieviren“ in die Blase war es bei 55 von 103 Patienten (53,4 %) nach 3 Monaten zu einem kompletten Ansprechen gekommen. Bei 25 der 55 Patienten (45,5 %) mit einem Ansprechen war der Erfolg auch noch nach 12 Monaten nachweisbar. Mit Ausnahme einer leichten und kurz andauernden Blasenreizung kam es zu keinen Nebenwirkungen.