Bei einer schmerzlosen Blutung der Blase besteht das Risiko einer bösartigen Erkrankung der Blase. Hat man keinen tief einwachsenden, sondern einen oberflächlichen Krebs, gibt es die Möglichkeit, durch eine Behandlung der Blase mit abgetöteten Tuberkulose-Bakterien die Erkrankung zu heilen. Es handelt sich dabei um keine Chemotherapie, sondern eine Immuntherapie, fast wie eine Impfung.
Diese Therapie, als sogenannte BCG-Therapie berühmt geworden, ist weltweit in allen Leitlinien zur Behandlung von Blasenkrebs etabliert. So einzigartig und „verrückt“ diese Therapie ist, so außergewöhnlich war auch der Weg von der ersten Idee bis zur klinischen Umsetzung.
Professor Morales hat BCG für den Blasenkrebs entdeckt
1976 veröffentliche Alvaro Morales, der seit einigen Jahren als Urologe an der Universität Ontario in Kanada arbeitete, im amerikanischen Journal of Urology einen der wichtigsten Beiträge zur Therapie des Blasenkrebs des vergangenen Jahrhunderts. Er berichtet über 9 (neun!) Patienten mit immer wieder auftretenden oberflächlichen Blasentumoren, denen er abgeschwächte Tuberkulosebakterien in die Blase gefüllt hatte. Es zeigte sich, dass die Patienten in der weiteren Nachsorge deutlich weniger Tumoren hatten als ohne Behandlung. Aber wie kommt man auf so eine verrückte Idee, die sich in den darauf folgenden Jahrzehnten als therapeutische Revolution herausstellte?
Tuberkulose-Patienten hatten weniger bösartige Erkrankungen
Einem gewissen Raymond Pearl fiel vor 90 Jahren bei Leichenuntersuchungen an der Universität in Baltimore eine Besonderheit auf. Bei Verstorbenen, die allem Anschein nach eine Tuberkuloseerkrankung hatten oder durchgemacht hatten, fand er auffällig weniger bösartige Erkrankungen. Er stellte daraufhin die Theorie auf, dass durch die Tuberkuloseerkrankung irgendwie ein gewisser Schutz vor Krebserkrankungen entstanden sein müsse, auch wenn er den Mechanismus nicht erklären konnte (Pearl R., 1929).
Eine Tuberkulose-Impfung wird entdeckt
Unabhängig davon war es 2 Jahre zuvor den beiden Franzosen Albert Calmette und Camille Guerin gelungen, Tuberkelbakterien so zu verändern, dass sie nicht mehr infektiös waren. Dadurch konnte man es Gesunden verabreichen, die dann mit einer Immunantwort reagierten und dadurch eine Schutzimpfung erhielten. Doch dann passierte ein Desaster. In Lübeck verabreichten 2 Ärzte im Jahre 1930 mehreren hundert Kindern diese Impfung – hatten aber durch Laborfehler verunreinigte Bakterien eingesetzt. Es waren nicht nur abgeschwächte, sondern auch lebende Bakterien in dem Impfstoff. In der Folge starben 77 Neugeborene, weitere 171 Impflinge erkrankten. Dieses Lübecker Impfdesaster, das auch Lübecker Totentanz berühmt geworden ist, führte zu einer jahrzehntelangen Verzögerung in der Tuberkuloseimpfung.
Erste Beweise: Tuberkelbakterien schützen vor Krebs
Erst Ende der 50-ger Jahre des vergangenen Jahrhundert, also mit fast 30 Jahren Verzögerung, fing man wieder an, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob Tuberkulosebakterien vor Krebsentstehung schützen. Lloyd J Old, der später als einer der ersten Krebsimmunologen berühmt wurde, veröffentlichte im Jahre 1959 in einer der berühmtesten Wissenschaftszeitungen der Welt, der Zeitschrift „Nature,“ einen viel beachteten Artikel. Er hatte Mäusen bösartige Tumoren übertragen und gezeigt, dass Mäuse, die er zuvor mit dem Impfstoff der Franzosen, dem Bacillus Calmette-Guerin (BCG) behandelt hatte, deutlich seltener an den übertragenen Tumoren erkrankten als Tiere ohne diese Behandlung.
Damit war das Interesse an dieser Therapiemöglichkeit wieder entstanden. Weitere Forscher fanden heraus, dass es nicht das Bakterium selbst war, dass vor Tumoren schützte, sondern die durch die Bakterien ausgelösten Immunreaktionen im Körper. Es dauerte dann weitere 10 Jahre, bis die ersten Forscher anfingen, das Bacillus Calmette-Guerin (BCG) klinisch am Menschen zu testen. Es wurde in den 1970-ger Jahren in einzelnen Fällen bei Blut- und Hautkrebs getestet.
Ein verrückter Zufall hilft dem Entdecker Alvaro Morales
Alvaro Morales, der an der Urologischen Universitätsklinik in Ontario in Kanada arbeitete, kannte die früheren Arbeiten über diesen Impfstoff. Er hatte dann die Idee, es beim Blasenkrebs einzusetzen, nicht nur weil es leicht über einen kleinen Katheter in die Blase einzubringen war , sondern auch weil es dort ausreichend lange einwirken konnte. Also plante er eine Studie und beantragte bei der nationalen kanadischen Krebsgesellschaft eine finanzielle Förderung. Diese wurde jedoch – wie er selbst berichtete – mit dem Kommentar abgelehnt, solch eine Untersuchung sei ein „Rückfall in die Steinzeit der Tumorimmunologie“.
Glücklicherweise hat Alvaro Morales nicht aufgegeben. Er wusste, dass es in New York ein Institut zur Krebsforschung gab, das von einer gewissen Helen Coley Nauts gegründet worden war. Diese wiederrum war die Tochter des New Yorker Krebschirurgen Dr. W. B. Coley. Der hatte 70 Jahre vorher versucht, bei Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung mit einem Gemisch von bakteriellen Extrakten eine Besserung des Krankheitsverlaufs zu erzielen. Dieses bakterielle Extrakt hieß „Coley’s toxin“. Es geriet in Vergessenheit. Jetzt endlich, 70 Jahre später, sah die Tochter eine Chance zu beweisen, dass ihr Vater doch recht hatte. Auch deshalb bewilligte sie die Forschungsmittel für den Antrag von Dr. Morales.
Der Rest ist glorreiche Geschichte. Nachdem Dr. Alvaro Morales seine ersten Ergebnisse 1976 veröffentlicht hatte, erfolgten viele Folgestudien. Und alle haben gezeigt, dass die lokale Gabe der abgeschwächten Tuberkelbakterien in die Blase erfolgreich ist.
Auch heute noch, fast 45 Jahre nach der Erstbeschreibung, ist die BCG-Spülung (Bazillus Calmette-Guerin) eine der wesentlichen Therapiesäulen bei der Behandlung des oberflächlichen Blasenkrebs.
Botschaft am Ende
Manchmal braucht es eine verrückte Idee, aber auch den Mut, einen außergewöhnlichen Schritt zu wagen. Wird der eigene Forschungsantrag von der kanadischen Krebsgesellschaft mit der Bemerkung abgewiesen, es sei ein Rückfall in die Steinzeit, würden sich die meisten Forscher frustriert zurückziehen. Es ist das Verdienst von Dr. Alvaro Morales, die „steinzeitliche“ Idee trotzdem verfolgt zu haben.
Auch heute hat man noch nicht verstanden, warum das Tuberkelbakterium diese tumorunterdrückende Wirkung hat. Viele Untersuchungen haben jedoch bestätigt, daß es zu einer starken Immunreaktion kommt, die bei 30-50 % der Patienten mit einem oberflächlichen Blasenkrebs zu einer Abstoßung der erkrankten und einem Nachwachsen von gesunder Blasenschleimhaut führt.