Was hat die Wirbelsäule mit der Blase und Erektion zu tun?

Alle Organe des Menschen müssen reguliert werden. Das geschieht entweder durch Ausschüttung von Hormonen als biochemischen Botenstoffen wie beispielsweise das Insulin zur Zuckerregulierung oder durch Nerven. Diese Nerven sind extrem empfindlich und deshalb im Inneren der Wirbelsäule geschützt. Auf der gesamten Länge der Wirbelsäule treten die sogenannten Spinalnerven aus der knöchernen Struktur der Wirbelsäule aus.

Wie werden Nerven beschädigt?
  • Druckschädigung beim Austritt der Nerven im Bereich der Wirbelsäule (Bandscheibenvorfall)
  • Zentraler Schaden im Bereich des Wirbelkanals (beispielsweise Querschnittslähmung nach Unfall)
  • Erkrankung der Nerven durch Immunerkrankung (Multiple Sklerose, Guillain-Barré-Syndrom) oder Virusbefall (Gürtelrose)
  • Schädigung des Nervenverlaufs außerhalb der Wirbelsäule (Schädigung durch einen Unfall, Druck durch Tumor oder Operation)
  • Schäden durch Medikamente (besonders Krebsmedikamente) und Gifte (zum Beispiel zu viel Alkohol‘)
  • Mangelnde Durchblutung beispielsweise als Folge von Nikotinabusus
Körperregulation durch Nerven: Intelligenter als KI

Müsste unser Bewusstsein jede Körperaktion steuern, wäre ein permanenter Absturz vorprogrammiert. Deshalb hat sich die Natur eine geniale Arbeitsaufteilung einfallen lassen. Es gibt das willkürliche zentrale Nervensystem, das wir bewußt und mit Willen steuern – und das sogenannte autonome vegetative Nervensystem, das selbstständig wesentliche innere Abläufe reguliert.

Jeder kennt das: Wenn man rennt, müssen die Muskeln arbeiten – das steuert unser Wille und das Gehirn ist das Werkzeug. Dass wir dabei aber schneller Atmen müssen und der die Herzfrequenz wie auch der Blutdruck steigen, um den Sauerstoffbedarf zu stillen, das passiert „quasi“ automatisch im Hintergrund durch das autonome Nervensystem.
Das autonome oder vegetative Nervensystem

Das autonome oder vegetative Nervensystem reguliert viele Körperfunktionen automatisch. Vergleichbar einem Dimmer-Lichtschalter gibt es Plus- und Minus- Aktionen, wobei der Sympathikus der aktivierende Plus-Teil und der Parasympathikus der hemmende Minus-Teil ist. Wichtige Schaltstellen befinden sich beidseits vom Rückenmark (1) in perlschnurartigen Strukturen, den sogenannten Ganglien (2). Der berühmte, aus Dänemark stammende Anatom Jacobus Winslow (1669–1760) bezeichnete diese Ganglien als »kleine Gehirne«. Man kann versuchen, mittels bestimmter Biofeedback-Methoden hier steuernd einzugreifen (Im Bild oben rechts erkennt man beispielhaft die Blasensteuerung, Darmsteuerung, Spannung der Muskelgefäße zur Blutdruckregulation, Regulation der Herzfrequenz bei Anstrengung und Entspannung und die Steuerung der Atmung je nach Sauerstoffbedarf).

Nicht umsonst kann man die Blase als „das Herz im Unterleib“ bezeichnen. Die Steuerung ist komplex. Bestimmte Funktionen werden zentral gesteuert und man kennt inzwischen die entsprechenden zentralen Schaltstellen. Andere Funktionen wie das Gefühl der Blasenfüllung und der Harndrang werden autonom beeinflusst. Dabei wird die Blasenfunktion vom Sympathikus gebremst („Beim Flüchten wäre ein Blasendrang hinderlich“) und vom Parasymphatikus aktiviert („Der Harndrang kommt immer nach dem Sport“).
Wissen hilft auch bei Blasenproblemen: Einige praktische Alltagshilfen
  • Wenn ich muss und nicht kann, warum trete ich auf der Stelle? Wenn man auf die Toilette muss, fangen viele Betroffenen an, unruhig hin und her zu tippeln, oder kneifen rhythmisch ihre Pobacken. Die Betroffenen aktivieren durch die Bewegung das Gaspedal Sympathikus, um die Blasenaktivität zu unterdrücken. Dadurch kann zumindest eine Zeit lang das Gefühl der Blasenfülle gehemmt werden.
  • Warum müssen Sportler immer nach dem Sport auf die Toilette? Durch die hohe Herzfrequenz während des Sports kommt es zu einer vermehrten Durchblutung der Niere, und die Harnproduktion steigt. Da aber im Kampf- oder Fluchtmodus – und das wäre ja die sportliche Aktivität – jedes Gefühl der Blasenfülle störend ist, unterdrückt der gasgebende Sympa­thikus das Völlegefühl der Blase. Kommt es dann zur Erholung, setzen die regenerierenden parasympathischen Mechanismen ein – und das Gefühl der Blasenfülle entsteht. Und der Sportler muss die Blase entleeren.
  • Warum löst plätscherndes Wasser einen Harndrang aus? Kennen Sie das? Sie entleeren morgens nach dem Aufstehen zuerst die Blase, dann putzen Sie sich die Zähne und lassen dabei den Wasserhahn laufen. Und obwohl Sie erst kurz vorher die Blase entleert haben, entsteht erneut ein starker Harndrang. Hier spielt uns unser Gehirn einen Streich – wir hören das Wassergeräusch, und es kommt zu einer fehlgedeuteten Gedankenverbindung, die unser Steuerzentrum (Miktionszentrum) im Großhirn anspricht. Dies machen sich mitunter Urologen zunutze, wenn Patienten für eine Urinuntersuchung oder eine Röntgenuntersuchung die Blase entleeren müssen. Dann hilft das Geräusch des laufenden Wasserhahns, einen Harndrang auszulösen.
  • Die halb volle Blase vor der Nachtruhe entleeren? Klopfen hilft! Wir kennen alle die Momente, wenn man kurz vor dem Verlassen des Hauses noch einmal auf die Toilette geht, weil man keine Toilette suchen oder eine öffentliche Toilette vermeiden möchte. Ähnlich ist es abends vor dem Zubettgehen. Die Blase ist gefüllt, aber man hat noch keinen Drang, möchte aber auch nicht nach zwei Stunden noch einmal aufstehen. Hier hilft ein einfacher Trick: Drücken Sie mit der Hand oder der Faust die Region oberhalb des Schambeines rhythmisch in die Tiefe. Da sitzt die Blase, die durch dieses Drücken quasi wachgeklopft wird. Spätestens nach einer Minute werden Sie ein Dranggefühl bemerken. Die Blase springt gewissermaßen an und Sie können sie entleeren.
Bandscheiben-Vorfall und Schäden der Beckenorgane

Bei einem Vorfall der Bandscheibe reißt die zähe Faserhülle und der gallertartige Kern der Bandscheibe tritt nach außen. Dieser drückt dann auf das umliegende Nervengewebe, was zu Schmerzen und möglichen Schäden der betroffenen Nerven führt. In mehr als 95 Prozent kommt es zu einem seitlichen Vorfall der Bandscheibe, so daß ein einzelner Nerv betroffen ist. Die Nervenversorgung der Blase und des Penis erfolgt aber über ein Geflecht von Fasern, die auf mehreren Ebenen aus der Wirbelsäule austreten. Deshalb führt die klassische und weitaus häufigste Form des Bandscheibenvorfalls, der „seitliche“ Vorfall bei einem Wirbelkörper, zu keinen Ausfallserscheinungen von Blase, Darm und Sensibilitätsstörungen im Genitalbereich.

Beim seitlichen Vorfall einer Bandscheibe wird ein einzelner austretender Nerv gereizt und möglicherweise geschädigt. Dramatischer ist der zentrale Vorfall der Bandscheibe in den Rückenmarkskanal. Bei diesem sogenannten Cauda-Equina-Syndrom werden alle Nervenfasern im Rückenmarkskanal gequetscht und es kann zu massiven Schäden der Beckenorgane kommen. Um langfristige Schäden zu vermeiden, muss schnellstmöglich operiert werden.

Untersuchungen haben gezeigt, dass es wichtig ist, beim Kauda-Syndrom, also dem zentralen Vorfall der Bandscheibe, innerhalb von 48 Stunden zu operieren und die gequetschten Nerven im Rückenmarkskanal zu entlasten. Der Bandscheibenschaden passiert meist zwischen unterstem Lendenwirbel und dem Kreuzbein, einem Bereich, in dem kein kompaktes Rückenmark mehr vorhanden ist sondern alle Nerven als Fasern verlaufen, ähnlich einem „Pferdeschweif“, woraus sich der Name „Cauda equina“ ableitet. Aber selbst bei Einhaltung dieser zeitlichen Grenze haben die Betroffenen angegeben, in rund 40 % bleibende Schäden der Nervenversorgung von Blase, Darm und Sensibilitätsstörungen im Genitalbereich zu erleiden.

Spontanerektion beim Gehen: Eine seltene Komplikation beim Kauda-Syndrom

Im Jahr 2020 erschien die Arbeit einer japanischen neurochirurgischen Arbeitsgruppe, die die Daten von mehr als 1500 Patienten mit solch einem „Causa-equina-Syndrom“ analysiert haben. Dabei zeigte sich, dass 8 der 1570 Betroffenen (0.5 %) neben den typischen Gefühlsstörungen und Lähmungserscheinungen im Becken und den Beinen ein fast paradoxes Symptom zeigten. Beim Gehen und Stehen kam es vermutlich durch Reizung entsprechender paarsympathischer Nerven zu Spontanerektionen. Dieses Phänomen verschwand nach erfolgter Operation mit Beseitigung der Kompression der Nervenfasern.

Die Spinalkanalstenose: Eine mögliche Ursache für Erektionsstörungen

Durch Verschleiß kann es zu einer Einengung des Wirbelkanals (=Spinalkanals) kommen. Es gibt kaum Untersuchungen, ob diese Spinalkanalstenose zu einer Störung der Erektionsfähigkeit führt, sicher auch, weil bei den Betroffenen andere Symptome vorherrschend die Lebensqualität mindern. Eine Arbeit von Münchener Neurochirurgen aus dem Jahre 2010 ergab jedoch ein überraschendes Ergebnis, denn nach der operativen Therapie kam es bei den Männern nicht nur keiner Besserung, sondern sogar einer zunehmenden Verschlechterung der Erektionsfähigkeit. Ob dies Folge der Grunderkrankung oder anderer Mechanismen ist, konnte nicht beantwortet werden.

Wirbelsäule und Blasenfunktion

Es gehört zum urologischen Allgemeingut, dass Schäden im Bereich der unteren Wirbelsäule (Kauda-Syndrom und Spinalkanalstenose) auch die Blasenfunktion beeinflussen können. Dabei kann es zu einer Über- oder einer verminderten Aktivität des Blasenmuskels kommen. Meist sind die Rückenschmerzen aber klinisch führend bei der Entscheidung, ob eine (operative) Therapie der Wirbelsäule notwendig ist. Wie der Urologe die Beschädigung des Blasenmuskels behandelt, hängt von der Symptomschwere und Begleitkomplikationen ab. Dabei können neben Medikamenten noch die Neuromodulation oder auch Botoxgaben in den Blasenmuskel erfolgen.

Botschaft am Ende

Die Wahrscheinlichkeit, durch einen „isolierten“ seitlichen Bandscheibenvorfall eine Störung der Blasen – und / oder Erektionsfunktion zu erleiden, ist nahezu ausgeschlossen, da die Austrittspunkte der Nerven und des autonomen Nervensystems über mehrere Wirbelkörperetagen verläuft. Etwas anderes ist es bei der massiven flächigen Kompression wie bei beim Kauda-Syndrom oder der massiven Einengung des Wirbel- oder Spinalkanals.

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