Wie kam Botox in die Blase?

Die Anwendung von Botulinumtoxin, das ähnlich dem Begriff „Tempo“ für Papiertaschentücher als „Botox“ bezeichnet wird, ist ein Milliardengeschäft. Man rechnet, dass die Hälfte des Umsatzes in der ästhetischen „Medizin“ erwirtschaftet wird und die andere Hälfte bei „echten“ Erkrankungen, die mit einer muskulären Überfunktion einher gehen.

Rund ein Drittel dieses Umsatzes bei medizinischer Indikation betrifft Erkrankungen des Blase. Im wesentlichen sind das

  • Blasenüberfunktion unbekannter Ursache
  • Blasenüberfunktion bei neurologischen Erkrankungen (Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Querschnittlähmung)
  • Blasenüberfunktion bei interstitieller Zystitis („Rheuma der Blase“)
 
Aber wer hatte die Idee, es in der Blase anzuwenden?

Im Jahre 1975 wurde in der großen Berufsgenossenschaftlichen Klinik in Murnau als Unterstützung für die Abteilung für Querschnittgelähmte ein neuer urologischer Leiter gesucht. Es bewarb sich ein junger Urologe aus Heidelberg mit nur 35 Jahren, der aber Erfahrungen mit der urologischen Versorgung von Querschnittgelähmten hatte. Sein damaliger Oberarzt sagte zu ihm“ Wenn Du Dich ein Leben lang mit stinkendem Urin beschäftigen willst, bewerbe Dich ruhig. Von uns hat sonst keiner Interesse“ Denn die Querschnittspatienten hatten sehr oft Harnwegsinfekte.

So wurde Dr. Manfred Stöhrer sehr jung zum Chefarzt berufen. Er baute eine große Abteilung auf, forschte viel, hatte internationale Kooperationen und wurde später zum Professor ernannt. Unter anderem hatte er Kontakt zu einem der bekanntesten Spezialisten für Querschnitterkrankungen, Prof. Alain Rossier an der Havard Universität in Boston. Der war selbst seit einem Schwimmunfall querschnittgelähmt und beschäftigte sich wissenschaftlich mit der Versorgung von Querschnittgelähmten.

Pro. Rossier kannte Botulinumtoxin, weil er es bei Kindern mit Muskelkrämpfen anwendete. Dafür war das Mittel auch zugelassen. Er vermutete schon 1996, dass es auch bei der Blase wirken könne. Aber die Wirkung an der Skelettmuskulatur isst das Eine, weil sie auergestreift ist. Aber würde es auch an der glatten Muskulatur wie bei der Blase oder dem Darm funktionieren? Tierexperimentell hatten das Forscher gezeigt, aber noch keiner hatte die Idee aufgegriffen, es einzusetzen.

Prof. Manfred Stöhrer hatte die Idee mehrfach mit seinem Ärzteteam besprochen – es galt nur die ersten Patienten zu finden und zu überzeugen. Die erste Operation mit Botoxgabe in den Blasenmuskel fand am 3. März 1998 in Murnau statt. Der Patient hatte aber nach einer Langzeitbehandlung mit einem Dauerkatheter bereis eine rückgebildete und weitgehend vernarbte Blase ohne viel Muskeln. Deshalb zeigte  die Botoxgabe nur einen geringen Effekt.

Prof. Dr. Manfred Stöhrer, der zuerst die Idee hatte, Botulinumtoxin zur Therapie der überaktiven Blase anzuwenden.

Dafür war der Erfolg bei den nächsten 3 Betroffenen umso überzeugender. Was tun? Was jetzt folgte, hat mit dem Ehrgeiz des Wissenschaftlers zu tun, eine durchschlagende Idee personalisiert der wissenschaftlichen Welt zu präsentieren. Die Besonderheit hat Carl Djerassi, der Erfinder der Anti-Baby Pille, in seinem Buch „Das Bourbaki Gambit“ beschrieben. Darin beschließen 3 Forscher, die die Zwangsversetzung in den Ruhestand nicht akzeptieren wollen, zu kooperieren und beschreiben unter dem Pseudonym des russischen Mathematikers Nikolaus Bourbaki (der selbst ein Pseudonym war) eine revolutionäre medizinische Idee. Die Idee ist so gut, dass sie nobelpreisverdächtig wird – und dann beginnt der Kampf um die Aufhebung des Pseudonyms, weil jeder Forscher diese Idee mit dem eigenen Namen verbunden haben möchte.

Prof. Stöhrer suchte nach den ersten erfolgreichen Anwendungen einen Kooperationspartner und telephonierte – im Beisein einiger Ärzte seiner Klinik – mit Frau Prof. Schurch, die als Neurologin ein Rehabilitationszentrum in der Schweiz leitete. Sie hatte bereits versucht, Botulinum in den spastischen Schließmuskel zu spritzen. Sie vereinbarten eine Kooperation und er sollte als Erstanwender das Recht auf die Erstautorenschaft bei der ersten gemeinsamen Publikation haben.

So geschah es auch. Prof. Stöhrer stellte die gemeinsamen Ergebnisse auf einer Tagung der ICS (International Continence Society) in den USA vor und dies wurde in dem Kongreßband 1999 publiziert. Sehr viel prominenter war jedoch die Folgepublikation im darauffolgenden Jahr in einer sehr bekannten Wissenschaftszeitung, bei der Frau Prof Schurch als Erstautorin gelistet ist. Deshalb wird sie von vielen als Erstbeschreiberin der Botoxanwendung in der Urologie genannt. Das ist aber falsch.

Botschaft am Ende

Die Welt der Wissenschaftler ist Außenstehenden oft fremd. Ökonomen werten den Erfolg einer Sache an dem geldwerten Vorteil. Das ist Wissenschaftlern fremd. Hier geht zuerst um die Patienten, bei einer herausragenden Idee aber auch um die Anerkennung für diese Idee. Es bedeutet einen Handschlag der Community der Gleichgesinnten, eine Sache vorangetrieben zu haben.

Die Botox-Anwendung in der Blase ist ein Beispiel, wie es aber mitunter durch eine Verkettung von speziellen Umständen dazu kommen kann, das die Zuschreibung einer Idee verdreht wird. Natürlich ist es für das Wohl der Patienten nachrangig – aber der Außenstehende möge verstehen, dass man als forschender Kliniker im gesamten Leben vielleicht 1-2 wirklich neue Ideen hat. Dann freut man sich über den Fortschritt – aber freut sich auch, wenn diese Neuerungen mit dem eigenen Namen verbunden werden. Das darf man nicht als fehlgeleiteten Ehrgeiz verurteilen. Denn im Brennglas des 30-40-jährigen Berufsleben ist es vielleicht das Einzige, was übrig bleibt. Deshalb sollte die Erstanwendung von Botox in der Blase demjenigen zugeschrieben werden, der die Idee hatte und die Erstanwendung durchführte, also Prof. Manfred Stöhrer. Man könnte auch sagen „Ehre, wem Ehre gebührt“.

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